Keine Rede amerikanischer Politiker kommt ohne Religion und Geschichte aus. Und in Frankreich passiert es schon mal, dass die Opposition aus Protest die Marseillaise singt. Nur deutsche Politiker wirken vergleichsweise nüchtern und emotionslos. Warum?
Man stelle sich vor: Die Opposition im Deutschen Bundestag ist außer sich vor Wut. Sie hält es nicht mehr auf ihren Sitzen. Die Abgeordneten springen auf, einige fordern empört „Demokratie, Demokratie“ und rufen: „Wir lassen uns nicht mundtot machen!“ Dann stimmen sie mit stolzgeschwellter Brust das Deutschlandlied an und verlassen unter lautstarkem Protest den Bundestag. Doch Bundeskanzlerin Angela Merkel lächelt nur kühl und erklärt, sich nicht von diesem unwürdigen Theater beeindrucken zulassen. Die Bundesregierung zeigt sich von den Reaktionen der Abgeordneten von FDP, Bündnis90/Die Grünen und Linke unbeeindruckt und verabschiedet die heiß diskutierte Parlamentsreform.
Verschiedene kulturelle Kontexte
Die geschilderte Szene hat sich natürlich so nie im Deutschen Bundestag abgespielt, dafür aber jüngst in Frankreich: Am 21. Januar dieses Jahres verließ die Opposition die Nationalversammlung aus Protest gegen eine Reform der Regierung Sarkozy, welche künftig die Parlamentsdebatten zeitlich begrenzt. Dabei sangen die Politiker die Marseillaise, die französische Nationalhymne. Ulrich Sarcinelli, Professor der Politikwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau, hält es für undenkbar, dass sich im Deutschen Bundestag jemals solche Protestszenen abspielen werden. Aber warum eigentlich ist es so unvorstellbar, dass sich deutsche Politiker eines derartigen Pathos‘ und solch einer Symbolik bedienen? Der Politikwissenschaftler macht vor allem geschichtliche Hintergründe dafür verantwortlich. „Die politische Kommunikation muss immer im jeweiligen kulturellen Kontext betrachtet werden. So sind die Unterschiede in der Politikvermittlung erklärbar“, sagt Sarcinelli.
Eine durch eine Revolution entstandene Nation
Ein Blick auf Frankreich mache die Unterschiede deutlich, so Sarcinelli. Dass Ende Januar rund eine Million Menschen gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung Sarkozy demonstrierten, dass es am 29. Januar einen Generalstreik gab oder dass die Oppositionspolitiker die Marseillaise sangen, sei vor allem durch die Geschichte des Landes zu erklären. „Diese Aktionen seien der Ausdruck einer Nation, die durch eine Revolution entstanden ist und in der die Selbstbestimmung des Volkes ein zentrales Element des nationalen Selbstverständnis‘ ist“, erklärt Sarcinelli. Das Ideal der Volkssouveränität gehöre seit 1789 zum „genetischen“ Repertoire der Franzosen.
Historische Unterschiede
So war die Marseillaise ursprünglich ein revolutionärer Kriegsgesang, der die Moral der französischen Revolutionstruppen 1792 im Krieg gegen Österreich stärken sollte. Das Lied wurde derart populär, das es 1795 erstmals zur Nationalhymne erhoben wurde. Die Marseillaise steht also für die revolutionäre Tradition Frankreichs. Die deutsche Nationalhymne dagegen, das „Deutschlandlied“, kann solch eine Tradition nicht aufweisen. Die zwölf Jahre währende Nazi-Herrschaft von 1933 bis 1945 kompromittierte das Lied derart, dass heute nur noch die dritte und politisch unbedenkliche Strophe des „Deutschlandliedes“ als offizielle Nationalhymne gilt. Ursprünglich drückte das 1841 von Heinrich Hoffmann von Fallersleben geschriebene und musikalisch getragene Deutschlandlied die Sehnsucht vieler liberaler Demokraten nach einem geeinigten deutschen Staat aus.
Ein weiterer Grund für die Demonstrationsfreudigkeit der Franzosen, so Sarcinelli, sei die Machtfülle des Präsidenten. Mit ihm gebe es einen klaren Adressaten, an den sich die Bevölkerung den Unmut adressieren könne. In Deutschland sei das schwieriger: „An wen wollen sie sich da richten? An die Bundesregierung, die ein Gesetz plant? An den Bundestag, der dem Gesetz zustimmt? An den Bundesrat, der trotz anderer politischer Färbung ebenfalls zustimmt oder an den Bundespräsidenten, der das Gesetz notariell beglaubigt und damit in Kraft setzt?“ fragt Sarcinelli.
Religiöses Pathos contra säkulare Politik
Auch ein Blick auf die USA zeigt deutliche Unterschiede in der politischen Kultur und Politikvermittlung. Am auffälligsten ist derzeit sicherlich die papstarartige Verehrung, die US-Präsident Barack Obama widerfährt, von der deutsche Politiker derzeit nur träumen können. Doch dieser augenfälligste Unterschied ist wohl zu einem Großteil dem Charisma Obamas und dem Ende der Ära Bush geschuldet. Theoretisch sei es auch in Deutschland möglich, dass ein Politiker solch eine Begeisterung auslösen könne, wenn er über genügend Charisma verfüge, sagt Jürgen Falter, Professor der Politikwissenschaft an der Universität Mainz. „Mit Blick auf die Vergangenheit stellt sich natürlich die Frage, ob nicht Anlass zur Sorge bestünde, wenn einem deutschen Politiker solch eine Verehrung zuteil würde. Denn Hitler war ja, wenn natürlich auch unter ganz anderen Vorzeichen, ein für seine Zeitgenossen sichtlich höchst charismatischer Politiker, der eine ähnliche Begeisterung wie Obama auslöste.“
Doch auch in der jüngeren Vergangenheit hat es charismatische Politiker gegeben wie zum Beispiel den ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, der bei seinem Bonn-Besuch im Juni 1989 auf einer Welle der Sympathie schwamm. Damals stellte er den Fall der Berliner Mauer in Aussicht. Auch Ex-Kanzler Willy Brandt besaß Charisma und war zumindest bei der Hälfte der deutschen Bevölkerung sehr beliebt, erklärt Falter. Derzeit sehe er in Deutschland aber keinen Politiker, der auch nur annähernd über soviel Charisma verfüge, dass er Begeisterungsstürme wie Obama auslösen könne.
Pathos in Politikerreden
Doch schon ein Blick auf Obamas Antrittsrede vom 21. Januar zeigt die tieferen historischen Unterschiede zwischen den USA und Deutschland in der politischen Kultur. In Obamas Rede finden sich zahlreiche religiöse und historische Bezüge, garniert von einer gehörigen Portion Pathos, wie folgende Beispiele zeigen: „Ich stehe hier heute demütig (…) eingedenk der Opfer unserer Vorfahren“, „Das ist die Quelle unserer Zuversicht, das Wissen, dass Gott uns gerufen hat, ein unbestimmtes Schicksal zu formen“ oder „Und dass wir mit Augen, die auf den Horizont und Gottes Gnade über uns gerichtet waren, dieses große Geschenk der Freiheit weitergetragen und sicher an künftige Generationen überreicht haben.“ Es ist schwer vorstellbar, dass eine wiedergewählte Bundeskanzlerin Angela Merkel oder ein neugewählter Bundeskanzler Frank-Walter Steinmeier derart religiöse Sätze in ihren möglichen Antrittsreden unterbringen würden – zu wenig Gebrauch machten sie bisher von diesem rhetorischen Mittel in ihren meist in nüchternem und unpathetischem Tonfall vorgetragenen Reden.
Religiöses Fundament der USA
Auch hier hätten die Unterschiede einen geschichtlichen Ursprung, sagt Sarcinelli. Die USA als die älteste Demokratie der Welt verfügten über eine ungebrochene demokratische Tradition, womit die immer wiederkehrende Erinnerung an die Gründerväter der Vereinigten Staaten erklärbar sei. Und ein Großteil der ersten Siedler waren Europäer, die ihren religiösen Glauben in ihrer alten Heimat nicht ausleben durften. So zum Beispiel die Puritaner und Quäker, die jeweils aus England stammten und sich im heutigen Massachusetts und Pennsylvania niederließen. Mit anderen religiösen Einwanderern, wie den Katholiken in Pennsylvania, bildeten sie das Fundament der entstehenden Zivilgesellschaft. Deshalb gebe es in den USA, trotz der strikten Trennung zwischen Staat und Kirche, keine staatsdemokratischen Akte ohne religiös aufgeladene Rhetorik, erklärt Sarcinelli. Gläubig zu sein sei für die Übernahme dieses Amtes unabdingbar, die konkrete Konfession scheine eher nebensächlich. „Überspitzt formuliert: In den USA ist es für einen Moslem einfacher, Präsident zu werden als für einen Atheisten.“
Kaum Religion in der deutschen Politik
In Deutschland verzichten die Politiker meist auf religiöse Bezüge in ihren Reden, da für viele Menschen Religion oder Glaube nur eine untergeordnete Rolle spielen. Laut dem „Religionsmonitor 2008“, einer Studie der Bertelsmannstiftung, welche die Religiosität der Menschen in 18 verschiedenen Ländern misst, ist der Anteil der sich selbst als religiös bezeichnenden Menschen in Deutschland mit 70 Prozent deutlich geringer als in den USA, wo sich 89 Prozent als religiös bezeichneten. Erklärbar ist dies vor allem durch die historische Epoche der Aufklärung und durch den Sozialismus in der DDR, welche beide den Säkularismus verstärkten. So konnte der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder 1998 seinen Amtseid ohne religiöse Beteuerung ablegen.
Geschichtsbruch durch den Nationalsozialismus
Und der Geschichtsbruch durch die zwölf Jahre andauernde Nazi-Herrschaft schließlich sei verantwortlich dafür, dass deutsche Politiker so wenig Bezug auf Geschichte und nationale Symbole nehmen würden, betont Sarcinelli. „Das Dritte Reich betrieb eine stark ritualisierte und symbolisch aufgeladene, oft perfekt choreographierte Politikdarstellung, die beim Umgang mit allem Symbolischen, vor allem in Verbindung mit dem Nationalen, bis in die Gegenwart Befangenheit erzeugt.“ Andere Länder seien deshalb im Umgang mit ihren nationalen Symbolen viel unbefangener als die Deutschen, wie das Marseillaise-Beispiel zeigt. Nur abseits der Politik, bei großen Sportereignissen etwa wie den Spielen der Fußballnationalmannschaft, lässt sich inzwischen ein durchaus heiter-unbefangener Umgang mit Nationalsymbolen beobachten.
Allerdings fehle in Deutschland eine lange, positive demokratische Tradition, wie in den USA oder Frankreich, worauf sich ein nationales Pathos stützen könne. Nur in äußert seltenen Fällen und zu besonderen Anlässen seien solch rituelle politische Handlungen möglich, ohne dass sie einen negativen Beigeschmack hätten, erklärt Sarcinelli. „Das letzte Mal war am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, als sich die Abgeordneten des Bundestags gemeinsam erhoben und spontan die deutsche Nationalhymne sangen. Das aber war eine historische Ausnahmesituation.“
Erschienen am 24.02.2009 auf ARD.de