„Bürgerbeteiligung kann ein Mittel zur Weiterentwicklung demokratischer Strukturen sein“

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Bild: Screenshot http://www.gemeinwohlhatvorfahrt.de/

Die „Bürgerinitiative Gemeinwohl hat Vorfahrt“ setzt sich für den Erhalt öffentlichen Eigentums in Wiesbaden ein. Die gegenwärtigen Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung in der hessischen landeshauptstadt hält die Bürgerinitiative für ausbaufähig, wie sie im Interview erklärt.

Die „Bürgerinitiative Gemeinwohl hat Vorfahrt“ für den Erhalt öffentlichen Eigentums in Wiesbaden, kurz BI Gemeinwohl, ist ein parteiunabhängiger Zusammenschluss von Wiesbadener Bürgerinnen und Bürgern, die sich für den Erhalt kommunalen Eigentums und die Rückführung von privatisierten oder privatrechtlich organisierten kommunalen Gesellschaften in parlamentarisch kontrollierte kommunale Eigenbetriebe einsetzen. Zu ihren Forderungen zählen unter anderem, dass die Wirtschaftstätigkeit der Stadt dem Gemeinwohl und der Daseinsvorsorge dienen soll, dass die Stadt keine weiteren Privatisierungen vornimmt, keine Finanzierungen durch Private Public Partnership (PPP) mehr vorgenommen werden und dass die Stadt öffentliche, ergebnisoffene Diskussionen zu allen Fragen des kommunalen Eigentums mit seinen Bürgerinnen und Bürger führt. Grund genug für mich, Brigitte Forßbohm von der „Bürgerinitiative Gemeinwohl hat Vorfahrt“ einige Fragen zum Status Quo der Bürgerbeteiligung in Wiesbaden zu stellen.

Frau Forßbohm, was war der Anlass zur Gründung der Bürgerinitiative Vorfahrt für Gemeinwohl?

Forßbohm: Die steigende Zahl von PPP-Projekten wie etwa die zunehmende Übertragung kommunaler oder staatlicher Dienstleistungen an Aktiengesellschaften und GmbHs, deren Geschäftsziele nicht dem Gemeinwohl, sondern der Gewinnerzielung und dem Vermögenserhalt dienen und deren Geschäftsgebaren öffentlicher Kontrolle entzogen ist.

Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung in Wiesbaden?

Sie sind bislang faktisch ziemlich gering, weil es außerhalb der parlamentarischen Gremien keine gesicherten Diskussions- und Mitwirkungsmöglichkeiten gibt – die Bürgerinnen und Bürger werden bestenfalls „angehört“. Die gewählten Verfahren sind willkürlich und weder kritisier- noch einklagbar.

Die Stadt Wiesbaden hat Ende des vorigen Jahres einen Prozess der Bürgerbeteiligung gestartet. Derzeit werden gemeinsam mit Vertretern der Verwaltung und interessierten Bürger Leitlinien für die Bürgerbeteiligung erarbeitet. Was halten Sie davon?

Das halten wir für einen akzeptablen Ansatz.

Wäre es auch zur Gründung Ihrer Bürgerinitiative gekommen, wenn es damals schon solch eine Form der Bürgerbeteiligung gegeben hätte?

Da die Ziele der Bürgerinitiative „Gemeinwohl hat Vorfahrt“ nicht von der Form der Beteiligung abhängen, hätte es die BI in jedem Fall gegeben.

Sind Stadtpolitik und -verwaltung überhaupt an einer Bürgerbeteiligung und einem Input der Bürger interessiert?

Wir meinen, dass nur Teile aus Stadtpolitik und –verwaltung daran ernsthaft interessiert sind, weil verstärkte Bürgerbeteiligung für die bisher Agierenden auch eine Art Machtverlust darstellt.

Glauben Sie, dass diese geplante formale Form der Bürgerbeteiligung auch eine Reaktion auf städtische Bauprojekte der jüngeren Vergangenheit ist,  die bei vielen Bürgern für Unmut gesorgt haben? Ich denke da nicht nur an das Stadtmuseum, sondern auch an die Diskussionen um den Neubau der Rhein-Main-Hallen oder das alte R+V Gebäude am Kureck.

Das Thema Bürgerbeteiligung stellt sich in breiterer Form, nicht nur bei Bauprojekten. Aber an solchen städtischen Großprojekten wird die Brisanz am ehesten erkennbar, weil hier die unterschiedlichen Interessen innerhalb der Stadtgesellschaft deutlich zu Tage treten.

Ist solch ein formalisierter Prozess der Bürgerbeteiligung nicht auch ein Versuch, Bürgerproteste zu kanalisieren und von der “Straße” fernzuhalten bzw. Bürgerinitiativen überflüssig zu machen?

Das glauben wir nicht. Wenn die Beteiligungsverfahren gut durchdacht und organisiert sind, sollte das zu besseren und akzeptableren Ergebnissen in der Stadtpolitik führen, die von mehr Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert werden können. Das könnte viele politische Energien schonen und wenig zielführende öffentliche Auseinandersetzungen aller Art ersparen. Das Ziel der Stadtpolitik sind ja wohl nicht Proteste, sondern sinnvolle Lösungen für kommunale Fragen. In einigen Fällen werden Bürgerinitiativen weiterhin nötig sein.

Braucht es überhaupt solch Formen der Bürgerbeteiligung? Der Bau des Stadtmuseums nach dem Mietmodell wurde schließlich auch ohne gestoppt.

Das ursprüngliche Ziel wäre ja der Bau eines Stadtmuseums gewesen, nicht dessen Verhinderung! Da es hierfür keinen geordneten Beteiligungsprozess gab, der vielleicht zu einer für sehr viele Interessengruppen akzeptablen Lösung geführt hätte, war das Ergebnis ein völlig überteuerter Entwurf, den die große Koalition der Stadtgesellschaft überstülpen wollte.

Sind die in Wiesbaden geplanten Formen der Bürgerbeteiligung ausreichend oder müsste die Stadt Wiesbaden mehr unternehmen, um die Bürger zu beteiligen. Wenn ja, was müsste die Stadt Wiesbaden tun, um die Bürger stärker zu beteiligen?

Die Leitlinien für Bürgerbeteiligung können ein erster Schritt in die richtige Richtung sein. Alles Weitere ergibt sich dann daraus, den „Beteiligungswilllen“ von Stadtpolitik und –verwaltung mal positiv vorausgesetzt.

Sehen Sie in der Bürgerbeteiligung ein Gegenmittel gegen die wachsende Politikverdrossenheit vieler Menschen oder eher die Angst vieler Städte, selbst etwas wie ein Stuttgart 21 zu erleben?

Wir sehen sie eher als Mittel zur Weiterentwicklung und Festigung von demokratischen Strukturen und Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft, damit sich Bürgerinnen und Bürger ernst genommen und beteiligt fühlen können. Die abnehmende Wahlbeteiligung bei Wahlen aller Art ist ein deutliches Warnsignal, das es mit der bisherigen Einseitigkeit der repräsentativen Demokratie so nicht weitergehen sollte. Direkte Formen der Demokratie sehen wir als Chance.

Wo liegen die Chancen, wo die Grenzen der Bürgerbeteiligung?

Die Chancen sind oben schon genannt. Die Grenzen gilt es nach und nach durch Erfahrung auszuloten, zumal einige wesentliche Grenzen durch Grundgesetz und Länderverfassungen erst mal gesetzt sind. Aber auch daran ließe sich in einem demokratischen Prozess etwas ändern, wenn dies als sinnvoll erachtet würde.

Vielen Dank für das Interview!

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