RODENKIRCHEN BRENNT NOCH IMMER

Deutscher Punk – das ist unflätige Musik, die gepiercte Dosenbiertrinker mit bunten Haaren gerne hören. Typen, die Passanten gerne mal mit Sätzen wie „haste mal ’ne Mark“ anschnorren. Ein Relikt, das mehr als 30 Jahre nach seinem ersten Auftauchen in Köln-Rodenkirchen im Sterben liegt. Falsch! Totgesagte leben bekanntlich länger.

Körper zucken, hüpfen herum, Arme packen Schultern und stoßen sich nach oben hin ab. Pogo-Alarm vor der Bühne im Schlachthof Wiesbaden, wo schon seit 20 Jahren keinem Schwein mehr der Garaus gemacht wurde. Die Musik, die aus den Boxen wummert: roh, abgehackt, aggressiv – und vor allem laut. Oder einfach Punk. Ein Menschenknäuel wogt im Takt hin und her. Junge Männer und Frauen mit grünen, roten oder lila gefärbten Haarstreifen auf dem ansonsten oft kahl geschorenen Schädeln, in nietenbesetzten Lederjacken und mit Kampfstiefeln an den Füßen.

Oben auf der Bühne springt Fabi wie ein Derwisch herum und spuckt die Worte in sein Mikrofon: „Ihr seid die neue Generation, mit Laptop und Mobiltelefon. Die Hoffnung fürs Zukunftsland. Ausgeträumt, kaputt gefickt, falsch gedacht.“ Fabi ist Sänger von Modern Stalking, einer Punkband aus Wiesbaden, wie es sie zu Hunderten in Deutschland gibt – ohne Plattenvertrag, Musikvideo oder Radio-Airplay. Ihr Auftritt kommt gut an beim Publikum. Was den Motten das Licht, ist den Punks der Krach. Zwischen den Liedern klatscht, johlt, grölt die Menge und bespritzt sich mit Bier.

Mit einer Saalschlacht fing alles an

Fabi vor dem Schlachthof in Wiesbaden; Foto: Falk Sinß Fabi, der Sänger von Modern Stalking.

„Rodenkirchen is burning“ („Rodenkirchen brennt“) war ein Artikel in der Musikzeitschrift „Sounds“ überschrieben, in dem erstmals Punk aus Deutschland vorgestellt wurde – das war im Jahr 1978. Im Kölner Stadtteil Rodenkirchen soll in einer Schulaula eines der ersten Konzerte zweier deutscher Punkbands stattgefunden haben. Es endete in einer Saalschlacht zwischen den kaum vorhandenen Punkern und dem Rest der Schüler, die lieber „ganz normale“ Rockmusik gehört hätten.

Mehr als 30 Jahre später sind solche Reaktionen nur noch schwer vorstellbar. Aber sonst hat sich nicht viel geändert. Punk ist alt geworden und gleichzeitig jung geblieben. Außer ein paar Veteranen mit Halbglatze und Bierwampe ist das Publikum im Schlachthof größtenteils Anfang 20. Punk erneuert sich immer wieder, die Szene lebt nach wie vor im Untergrund und fühlt sich wohl dabei. Trotz gefüllter Stadien bei den Toten Hosen und ausverkaufter Hallen bei den Ärzten.

„Ich habe eigentlich nie wirklich schlechte Erfahrungen wegen meines Aussehens gemacht“, sagt Fabi. Nicht in der Reihenhaussiedlung in der Provinz, in der der 26-Jährige aufwuchs. Nicht in der Schule und auch heute nicht als Fachkraft für Rohr-, Kanal- und Industrieservice im Wasserwerk. Aber er habe auch nie gesellschaftliche Nähe gesucht. Fabis Haare sind raspelkurz und gelb gefärbt, schwarze Ringe stecken in Augenbraue, Nase und Lippe. „Manchmal bekommen die Leute große Augen oder es fällt ein dummer Spruch,“ sagt er – „mehr aber auch nicht“.

Die Schmuddelkinder leben noch

Als Punk Ende der 1970er Jahre nach Deutschland kam, gründeten sich schnell in jeder größeren und kleineren Stadt einzelne Bands, und es etablierten sich kleine Szenen. Die deutsche Öffentlichkeit war auf diese alles Bürgerliche verneinende und stattdessen Hässlichkeit und Dilettantismus propagierende Jugendkultur nicht vorbereitet. „Punk – Kultur aus den Slums: brutal und hässlich“ urteilte „Der Spiegel“ damals und gab damit den Ton vor.

Etablierte Klubs und Plattenfirmen wollten nichts mit den neuen Schmuddelkindern des Rocks zu tun haben. Doch die Punks lernten schnell und nahmen die Sache selbst in die Hand. Unabhängige Plattenfirmen sprossen aus dem Boden, Häuser wurden besetzt und darin Konzerte veranstaltet. Die Szene schuf sich eine eigene Infrastruktur, die bis heute existiert. Ob in Frankfurt, wo diesen Sommer die Au, ein besetztes Haus, ihr 28-jähriges Bestehen beging. Knapp 1.000 Punks aus ganz Deutschland kamen zum Geburtstags-Open-Air. Oder ein paar Wochen später in Flensburg, wo das autonome Jugendzentrum und Wohnprojekt Hafermarkt seinen 20. Geburtstag feierte. Jedes Wochenende finden zig Punk-Konzerte in Deutschland statt. Auch der Schlachthof in Wiesbaden existiert als selbstverwaltetes Kulturzentrum schon seit 17 Jahren.

Seine Wände werden von Graffitis bedeckt. Das Innere des 1884 erbauten ehemaligen Schlacht- und Viehhofs ist schummrig. Die Wände sind schwarz gestrichen, wie auch die Theke, die rechts von der Bühne den Raum entlangläuft. Der Boden ist blanker Beton. Das einzige Licht im Raum stammt von den Bühnenstrahlern, die auf Fabi und seine Bandkollegen gerichtet sind. Weiter hinten baumeln drei einsame Lampions in verwaschenem lila von der Decke herab.

Punk ist keine Entschuldigung für menschliches Totalversagen

In der Öffentlichkeit dominiert das Klischee des saufenden, pöbelnden, in Fußgängerzonen schnorrenden und auf Bahnhofsvorplätzen herumlungernden Bürgerschrecks. Dem will Fabi nicht entsprechen. „Punk ist keine Entschuldigung dafür, menschlich total zu versagen“, sagt er, auch wenn er niemand vorschreiben will, wie er zu leben habe.

Er selber trinkt kaum noch Alkohol, und das Rauchen hat er aufgegeben. „Ich musste mir irgendwann eingestehen, dass ich mit Vollgas gegen eine Wand gefahren bin. Das Leben hat so viele schöne Facetten, man muss einfach nur bereit sein, sie zu sehen.“ Das gehe mit klarem Blick besser als mit einem Nebelschleier vor den Augen. Heute hat Fabi eine neue Droge: der Sport. Dreimal die Woche geht er klettern, zweimal wöchentlich joggt er 15 Kilometer.

Gegen den Plastikgeschmack der Konsumgesellschaft

Früher galt Punk als Aufschrei gegen die gefühlte Perspektivlosigkeit einer zerfallenden Industriegesellschaft. Die Mittel: Provokation und Schock. Egal wie. Ob mit Sicherheitsnadeln durch Wange und Ohr, Hakenkreuzen auf dem T-Shirt oder der Lederjacke, Hundeketten um den Hals oder gefärbten Zottelhaaren. Auch wenn Nazisymbole in der Szene längst aus der Mode gekommen sind, ist Punk heute nicht viel anders. Ein Aufbegehren gegen den Plastikgeschmack der heutigen Konsumgesellschaft. Nur die Provokation funktioniert nicht mehr so wie früher, die Gesellschaft hat sich an die schmutzigen Farbkleckse im Stadtbild gewöhnt. „Die Wertvorstellungen, die von dieser Gesellschaft vorgelebt werden, dieses Streben, immer mehr leere Statussymbole anzuhäufen, war mir damals zuwider“, sagt Fabi. Und es stört ihn immer noch. „Es kann nicht sein, dass die Leute hier den Kühlschrank voll haben. In Ländern wie Somalia haben die Menschen einen dicken Bauch, sind aber trotzdem nicht vollgefressen.“

Bei seinem wenige Minuten zuvor beendeten Auftritt hatte er seinem Publikum ins Gesicht geschrien: „Träume hab ich keine mehr, Realität, die fällt so schwer. Lass mich in Ruhe, ich will nicht mehr.“ Schlagzeuger Pascal hämmerte monoton seine Stöcke auf die Trommelfelle. Die Hände von Gitarrist Benito flogen über das Griffbrett seines Instruments und schießen die Riffs im Stakkato durch den Raum. Die Meute bekommt bei solchen Konzerten, was sie braucht. Sie stolpern, torkeln und rempeln, aber wenn jemand fällt, packen sofort zwei, drei Hände den am Boden Liegenden und ziehen ihn wieder nach oben.

Hauptsache weg

Fabi ist seit mehr als zehn Jahren Punk. Dass er heute auf der Bühne steht, verdankt er indirekt einem damaligen Klassenkamerad, mit dem er diese Musik für sich entdeckte. „Wir wollten was anderes hören, als diese obercoole Scheiße, die in den Charts läuft“, sagt er. So fing es an, der Anorak wich der Lederjacke, der Seitenscheitel dem „Iro“. „Punk war am Anfang vor allem ein Abenteuer, das da auf mich gewartet hat. Das war was anderes, und das war viel cooler, als wie alle anderen zu sein.“

Und es half, sich der Provinztristesse aus Fußballverein, Dorffest und freiwilliger Feuerwehr zu entziehen. Fabi stammt aus Taunusstein, einem 1971 gegründeten Zusammenschluss mehrerer kleiner Gemeinden im Taunus. „So oft ich konnte, bin ich da raus“, sagt Fabi, „Hauptsache weg“.

Mittlerweile ist er wieder in der Provinz gelandet, in Geisenheim im Rheingau – der Arbeit wegen. „Ich bin froh, den Job zu haben. Da muss ich mich nicht mit dem Arbeitsamt herumschlagen. Und mein Kühlschrank ist auch immer halbwegs gut gefüllt.“ Punk 2011, das bedeutet auch den Widerspruch zu leben, zwischen Angepasstheit und Rebellentum. Fabi will nicht so sein wie die Anderen, wie die Spießer: „Das eigene Verhalten ist entscheidend. Punk bedeutet für mich, meinen eigenen Weg zu gehen und nicht alles widerstandslos hinzunehmen. Punk bedeutet, Missstände anzuprangern und dem entgegen zu treten.“

Der letzte Akkord auf dem Wiesbadener Schlachthofgelände ist verklungen, das Konzert ist vorbei. Glänzende Gesichter, nassgeschwitzte T-Shirts, einst stolz-empor gerichtete Irokesen-Frisuren hängen schlaff herunter. Die Menge schlurft nach draußen. Etwa 50 bis 60 Punks waren da. Noch eine letzte Zigarette, dann grüßt die Nacht. Rodenkirchen brennt noch immer – ein bisschen zumindest.

Veröffentlicht bei ARD.de am 4.10.2011

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