Demokratie ist bekanntlich die „Herrschaft des Volkes“. Was aber, wenn das Volk – insbesondere die Jugend – nicht mehr wählen will? Im Interview erklärt der bekannte Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, weshalb die etablierten Parteien junge Menschen nicht mehr erreichen – und weshalb es falsch ist, pauschal von „Politikverdrossenheit der Jugend“ zu sprechen.
Herr Professor Hurrelmann, in der Shell-Jugendstudie 2006 haben Sie festgestellt, dass das politische Interesse junger Menschen unter 25 Jahren im Vergleich zu 2002 leicht gestiegen ist. Wird sich dieser Trend fortsetzen?
Solide Zahlen und damit einen soliden Vergleich werden wir erst 2010 mit der neuen Shell-Jugendstudie haben. Aber wenn ich die Atmosphäre richtig einschätze, dann könnte sich das Interesse der jungen Leute verstärkt haben – allerdings nur minimal. Das historische Tief in Punkto Politikinteresse junger Menschen ist deshalb noch nicht überwunden.
Also wird auch 2010, bei der nächsten Shell-Jugendstudie, nur eine kleine Minderheit der Jugendlichen angeben, sie sei an Politik interessiert?
Vermutlich ja. Nach meiner Einschätzung werden ähnliche Werte wie bei den vergangenen beiden Erhebungen erreicht. Damals waren es 34 und 39 Prozent.
Woher kommt das geringe Interesse der Jugend an Politik?
Wir haben es mit einer jungen Generation zu tun, die eine Distanz zwischen ihrem Leben und dem etablierten politischen System mit seinen Parteien, Parlamenten, Ministerien und Behörden entwickelt hat. Ich vermute, dieses geringe politische Interesse ist darauf zurückzuführen, dass die jungen Leute wenig damit anfangen können, wie Politik bei uns organisiert ist.
Was ist der Grund für die Distanz zur organisierten Politik?
Viele Jugendliche scheinen Politik vor allem als Handeln politischer Akteure in einem geschlossenen System wahrzunehmen, auf das sie keinerlei Einfluss haben. Sie sehen Politik gewissermaßen als eine mehr oder weniger gut funktionierende Maschinerie, die ihre Aufgaben erledigt, die ihnen aber keine Möglichkeit lässt, sich einzubringen. Die große Distanz der jungen Leute gegenüber der institutionalisierten Politik kommt anscheinend deshalb zustande, weil sie sich thematisch nicht angesprochen fühlen und glauben: ‚Die machen da im politischen System etwas, was mit mir direkt gar nichts zu tun hat.‘
Beim politischen Engagement innerhalb der Parteienlandschaft sieht es also mau aus. Engagieren sich Jugendliche überhaupt nicht politisch, oder haben sie andere Wege gefunden, sich einzubringen?
Doch, es gibt in der Tat viele junge Leute, die sich außerhalb der Parteienlandschaft politisch engagieren – etwa punktuell bei Demonstrationen, Bürgertreffen und Foren. Ein ganz wichtiges Betätigungsfeld ist das Internet als das Leib- und Magen-Medium der jungen Generation. Hier tauschen die Jüngeren zunehmend auch ihre politischen Ansichten aus. Deshalb sind künftige politische Strömungen im Web zuallererst wahrnehmbar.
Die Shell-Jugendstudie ist eine repräsentative Langzeituntersuchung, die Einstellungen, Stimmungen und Erwartungen von Jugendlichen in Deutschland dokumentiert. Die Studie wird seit 1953 vom Mineralölkonzern Shell herausgegeben, die Erhebungen finden alle drei bis vier Jahre statt. Die jüngsten beiden Shell-Jugendstudien aus den Jahren 2002 und 2006 sorgten für Aufsehen, da das politische Interesse junger Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren demnach historische Tiefstände erreichte. Im Jahr 2002 gab nur jeder Dritte der Befragten (34 Prozent) an, sich für Politik zu interessieren, vier Jahre später waren es 39 Prozent.
Welche Auswirkungen wird diese Entwicklung auf die politische Kultur haben?
Wir werden neue Formen der politischen Meinungsbildung und damit der politischen Entscheidungen haben – flexibler, offener, unberechenbarer, aber damit auch urdemokratischer.
Könnten die etablierten Parteien junge Leute im Internet erreichen und dort für ihre Themen begeistern?
Nur begrenzt. Nämlich nur dann, wenn sie im Internet wirklich die Themen und die Sprache der Jugend aufgreifen. Wenn Parteien dagegen einfach ihre klassischen Botschaften nehmen und sie 1:1 im Internet abbilden, dann fühlen sich die Jüngeren entweder gar nicht angesprochen, oder sie würden dies als Anbiederung auffassen. Die etablierten Parteien sollten also auf keinen Fall versuchen, sich allein auf den Verbreitungsweg Internet zu konzentrieren, ohne sonst etwas zu ändern.
Werden wir demnächst einen Aufschwung bislang unbedeutender Parteien erleben, die mit ihren Themen besser die jungen Leute ansprechen als die etablierten Parteien?
Meiner Ansicht nach liegt das in der Luft. Und wir haben auch erste Beispiele dafür: Wir haben die rechten Parteien, die zum Beispiel, vor ein paar Jahren in Mecklenburg-Vorpommern, gezielt die Gruppe der wirtschaftlich schwach situierten Jugendlichen, besonders der jungen Männer, angesprochen hatten und im Wahlkampf gesagt haben: ‚Wir vertreten eure Interessen.‘ Bei den jungen Männern haben sie damit bis zu 25 Prozent der Stimmen erhalten. Hier hatte also eine Partei davon profitiert, dass sie direkt die junge Wählerschaft angesprochen hat.
Das macht aktuell ja auch die Piratenpartei, die sogar verkündet, in den kommenden Bundestag einziehen zu wollen.
Ganz genau. Diese Partei spricht mit ihren Schwerpunktthemen Datenschutz und Informationsfreiheit im Internet genau die Themen und Interessenlagen an, die die junge Generation unmittelbar betreffen. Eine Partei, die das ganz gezielt macht, hat bei diesen authentizitäts- und originalitätssuchenden jungen Leuten natürlich viel mehr Chancen als eine schon sehr etablierte und gefestigte und damit auch schon traditionell erscheinende Partei.
Kristallisiert sich mit der Piratenpartei eine neue politische Jugendbewegung heraus, wie in den 80er Jahren mit der Anti-Atomkraft-Bewegung oder vor wenigen Jahren mit der Anti-Globalisierungsbewegung?
Die Piratenpartei kann durchaus der Kristallisationspunkt für eine neue Bewegung sein, denn sie trifft einige ganz sensible Komponenten des Lebensgefühls der jungen Generation – sich durch frei verfügbare Technik autonom und ohne Kontrolle von Autoritäten in der Gesellschaft bewegen zu können. Ich denke, wir werden noch von dieser Bewegung und damit auch von dieser Partei hören, sie wird gegenwärtig unterschätzt.
Zumindest für die kommende Bundestagswahl am 27. September scheinen die „Piraten“ und andere Parteien die jungen Wähler noch nicht so richtig mobilisieren zu können. Ist wieder mit einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung bei den Unter-25-Jährigen zu rechnen?
Hurrelmann: Dass die potenziellen Erstwähler zu den Altersgruppen gehören, die sich anteilsmäßig am wenigsten beteiligen – diesen Trend haben wir ja schon lange. Diese Entwicklung ist alarmierend, da sich einmal gebildete Wahlmuster oder eben Nicht-Wahlmuster bei vielen Menschen nicht mehr ändern. Und mittlerweile kommt die Beteiligung an Bundestagswahlen in den jüngeren Altersgruppen dem Wert von 50 Prozent immer näher.
Bedeutet das, dass wir uns mittel- und langfristig auf ein sinkendes Interesse auch bei den älteren Wahlberechtigten einstellen müssen?
Genau. Junge Leute sind immer schon Signalgeber und Seismografen für politische Entwicklungen gewesen. Über kurz oder lang wird ihr Wahlverhalten, in diesem Fall also die Höhe ihrer Wahlbeteiligung, von der gesamten Bevölkerung übernommen. Insofern muss man dieses Verhalten auch als Vorboten für spätere Entwicklungen interpretieren.
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Jahrgang 1944, war Professor für Erziehungswissenschaften und Soziologie an den Universitäten Essen und Bielefeld, wo er 1993 maßgeblich an der Gründung der ersten deutschen School of Public Health beteiligt war. Seit dem 1. März 2009 lehrt er Public Health and Education an der Hertie School of Goverance in Berlin. Hurrelmann leitete unter anderem die beiden jüngsten Shell-Jugendstudien, die international vergleichende Jugendgesundheitsstudie Health Behavior in School Children im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation und die 1. World Vision Kinderstudie. Er ist Autor vieler Lehr- und Handbücher.
Entwicklungen, die sogar unsere Demokratie gefährden können?
Ja, das können sie. Wenn in einer Wahl weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben, dann bekommt unsere demokratische Staatsform über kurz oder lang ein Legitimationsproblem. Deswegen müssen wir uns ernsthaft mit dieser zu geringen Wahlbeteiligung auseinandersetzen. Dabei darf man die Schuld aber nicht nur bei den politisch desinteressierten Wahlberechtigten suchen. Vielmehr muss man auch die Frage stellen: ‚Macht das politische System, machen die Parteien und die Politikerinnen und Politiker überhaupt noch genug, um für die Menschen attraktiv zu sein?‘
Ist die Wählergruppe der Unter-25-Jährigen einfach zu klein, um von den etablierten Parteien wahrgenommen zu werden?
Die potenziellen Jungwähler repräsentieren in der Tat eine anteilsmäßig kleine Gruppe, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wegen des demografischen Wandels sogar noch kleiner wird. Ich glaube, die Politik kümmert sich heute einfach zu wenig um die Interessen, Themen und Denkweisen der jungen Leute, weil sie das Gefühl hat, dass das sowieso nicht notwendig ist. Schließlich kann sie den Großteil ihrer Wählerschaft woanders erreichen. Bei den Parteien sollte sich jedoch die Erkenntnis durchsetzen, dass die Jungwähler trotz ihres geringen Anteils an der Gesamtwählerschaft eine sehr bedeutende Gruppe bilden.
Was sollten die etablierten Parteien ändern, um junge Menschen wieder anzusprechen?
Junge Leute können vor allem über Themen gewonnen werden, die in ihrem Spektrum liegen. Das wäre das erste, was in den Parteien passieren muss. Sie müssen allerdings – und da wird es für die etablierten Parteien schon sehr kompliziert – den jungen Leuten auch sagen, wofür sie stehen. Und sie dürfen kein zu stark auf die gesamte Gesellschaft ausgerichtetes Themenspektrum haben. Die junge Generation will wissen: ‚Wofür steht die Institution, wofür steht die Partei, was will sie?‘
In der Shell-Jugendstudie 2006 heißt es, dass der überwiegende Teil der jungen Leute unter 25 Jahren der Demokratie zwar positiv gegenüber steht, gleichzeitig wollen sich aber immer weniger für sie engagieren. Welche Konsequenzen hat dies für unsere Gesellschaft?
Ich beobachte eine solche Entwicklung mit großer Unruhe, denn das bedeutet, dass die junge Generation kein Vertrauen in die Traditionen demokratischer Entscheidungsprozesse und demokratischer Machtverteilung mehr hat. Das ist allerdings nicht nur ein deutsches Phänomen, insofern brauchen wir jetzt nicht die Sorge haben, dass wir hier irgendeinen besonderen historischen Fehler gemacht hätten nach gut 60 Jahren Demokratie. Aber die Distanz gegenüber der organisierten Politik ist für mich ein Alarmsignal, dass die junge Generation verloren zu gehen droht. Das ist gefährlich für die Weiterentwicklung der Demokratie, denn die braucht selbstverständlich die jungen Leute. Daraus folgt, dass die Parteien und das gesamte Gefüge der politischen Entscheidungsprozesse unbedingt auf die Bedürfnisse und Interessen junger Leute eingehen müssen.
Das Interview führte Falk Sinß.
Erschienen am 08.09.2009 auf ARD.de
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