Wahnsinn, Schmerz und Leid

Wiesbaden um die Jahrtausendwende. Der Schlachthof war noch eine alte Halle, der Kulturpark eine Ansammlung leerstehender, halb verfallener Lagerhäuser. Ein Abenteuerspielplatz für Dropouts, die manche der leerstehenden Gebäuden wie etwa das sogenannte Wursthaus, mit Subkultur füllten. An einem grauen Frühlingstag fand dort ein illegales Konzert statt.

Beinhaus

Der Raum: karger Beton. An den Wänden bis Hüfthöhe: Fliesen. Von der Decke baumelte ein Fleischerhaken in Kleinkindgröße, gehalten von den rostigen Gliedern einer Stahlkette. In einer der Ecken flexte ein junger Mann mit nacktem Oberkörper eine Stahlstrebe. Funken sprühen. Währenddessen drosch ein anderer Kerl mit einem Hammer auf eine Metalltonne ein. Neben ihm eine Rhythmusmaschine. Er trug eine Gasmaske, in deren Mundstück ein Mikrofon steckte. Die gebrüllten Satzfetzen waren nur schwer verständlich. Doch das war egal. Den Anwesenden war die Botschaft klar. Es gibt kein gutes Leben im Falschen. Es gibt nur Wahnsinn, Schmerz und Leid.

Es war nicht das erste Konzert von Beinhaus und zum Glück auch nicht das letzte. Aber es war ein passender Auftrittsort. Hier die Industriebrache, dort der Industrial von Beinhaus. Selten verschmolzen Location und Band so perfekt zu einem Gesamtkunstwerk wie an jenem Abend.

Der Klang der Werkzeuge

Die Geschichte von Beinhaus beginnt 1995. Die Asche der zu Grabe getragenen Hardcore-Punk-Band Aku Anka war noch warm, doch Robert Glück dürstete es nach Neuem, nach experimentellen Klängen, die nicht der Gleichförmigkeit des Punkrocks unterworfen waren. Gemeinsam mit Marko Schröder gründete er Beinhaus. Beiden war von Anfang klar: Zur Erzeugung von Klang braucht es keine klassischen Instrumente, es braucht nur Werkzeuge wie einen Hammer oder eine Flex, die auf Materialien wie Plastik, Metall und Stein treffen und mit harten elektronischen Beats und Sounds kombiniert werden. Die Einstürzenden Neubauten zwar als Referenz, aber nicht als musikalisches Abziehbild im Blick, formten sie Beinhaus zu einem musikalischen Gesamtkunstwerk, das den Mainstream bis heute – fast 25 Jahre später – konsequent ablehnt und sich aus den unterschiedlichsten Einflüssen wie Punk, Hip Hop, Schlager, Breakbeat, Dubstep oder Noise bedient.

Konzerte als körperliche Erfahrung

Beinhaus verausgaben sich noch immer auf jedem Konzert so, als ob es kein Morgen gäbe. Und sie beweisen jedes Mal aufs Neue, dass man sie gesehen und gespürt haben muss. Beinhaus live ist eine körperliche Erfahrung: Beats, Bässe, Blicke, Splitter, Worte, Funken. Man kann als Besucher eines Beinhaus-Konzertes nicht nicht reagieren. Man ist entweder sofort gefangen und fasziniert oder abgestoßen, aber dass man nach einem Beinhaus-Konzert nach Hause geht und hinterher erzählt, es wäre „ganz nett“ gewesen, das kommt nicht vor.

Auf „Zähne“ zeigen Beinhaus filigrane Härte

Ihre zahlreichen Tonträger – auch das Anfang des Jahres erschienene Album „ZAEHNE“ – können die Liveerfahrung nicht ersetzen. Sie sind höchstens Methadon – egal in welcher Besetzung Beinhaus agierten. Mal als Duo, dann als Trio mit Sängerin, wieder als Duo und seit 2014 wieder zu dritt. Mit David Kim Hermsdorf als drittem im Bunde, der Beinhaus seit einem Auftritt Ende der 90er-Jahre im KGB Bunker (noch so ein vergessener halblegaler Kellerclub, von denen Wiesbaden früher einige zu bieten hatten) wie ein Satellit umkreiste. Und zwar so lange, bis die Anziehungskraft zu groß wurde und er als Schlagwerker und „Mädchen für alles“ seinen Teil dazu beiträgt, den Old-School-Industrial frisch zu halten – was auf „ZAEHNE“ zu hören ist. „David hat wirklich sehr viel Zeit in Aufnahmen, Editing und Mix investiert. Das merkt man dem Album im Vergleich zu unseren anderen Releases auch an. Während wir früher vor allem hart und roh waren, hat er viel filigraner gearbeitet“, sagt Robert.

Auch auf „ZAEHNE“ finden sich wieder Stücke, die auf vorigen Alben enthalten waren und sich in einer andauernden Metamorphose befinden. „DLDENG“ zum Beispiel, das schon auf dem zweiten Demotape aus dem Jahr 1998 zu hören war und nun im neuen Glanz funkelt und das Credo von Beinhaus auf den Punkt bringt: „Das einzig Beständige ist die ständige Neudefinition.“ Der Oktober bringt Gelegenheit, der neuesten Metamorphose beizuwohnen.

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