Der 11. Juli 2011 hat traurige Geschichte geschrieben auf Zypern. Um kurz vor sechs explodierten an diesem Morgen auf dem Marinestützpunkt Evangelos Florakis im Süden der Mittelmeerinsel 98 Container, die rund 2 000 Tonnen Munition enthielten. Die Detonation zerstörte die Militärbasis. 13 Menschen starben bei dem Unglück, 62 wurden zum Teil schwer verletzt. Das nahe gelegene Elektrizitätswerk Vassiliko, das mehr als 50 Prozent des auf Zypern verbrauchten Stroms liefert, wurde schwer beschädigt. Der Stromverbrauch ist seitdem rationiert. Die Regierung wurde infolge der Katastrophe aus dem Amt gejagt, das Land erstickt an seinen Schulden und steht vor einer ernsten Wirtschaftskrise. Schon jetzt gilt die Explosion vom 11. Juli bei den Bewohnern des südlichen Teils von Zypern als schwerstes Unglück seit dem Einmarsch der Türken 1974. Für die internationale Versicherungsbranche bedeutet das Unglück einen Schaden in dreistelliger Millionenhöhe.
Die Geschichte des 11. Juli 2011 ist aber nicht nur eine Geschichte großer menschlicher Tragödien, sondern auch von Geheimdiplomatie und unglaublicher Schlamperei. Diese beginnt irgendwann im Januar 2009 im Hafen von Bandar Abbas am Roten Meer. Die staatliche Reederei des Iran, die „Islamic Republic of Iran Shipping Lines“, chartert den russischen Frachter Monchegorsk, der unter zypriotischer Flagge segelt, um damit Waffen nach Syrien zu verschiffen. Ein Verstoß gegen die Sanktion 1747 des UN-Sicherheitsrats. Diese untersagt unter anderem dem Iran, Waffen und Munition zu verkaufen und zu liefern. Der US-Geheimdienst bekommt Wind von dem Schmuggel. Die amerikanische Marine stoppt den Frachter auf seiner Fahrt durchs Mittelmeer und geht am 19. und 20. Januar an Bord. Die Soldaten finden 98 Container mit annähernd 2 000 Tonnen Munition und Sprengstoff. Da die USA die Ladung nicht beschlagnahmen dürfen, bitten sie Zypern zu diesem Schritt. Zwischen beiden Staaten besteht seit 2006 ein bilaterales Abkommen, um den Waffenhandel besser bekämpfen zu können.
Der Iran will Munition und Sprengstoff an Syrien liefern
Die USA drängen Zypern, das Schiff in einen zypriotischen Hafen zu bringen, doch der Mittelmeerstaat zögert. Die Monchegorsk liegt zunächst rund 60 Seemeilen vor Larnaca. Zypern fürchtet offenbar Vergeltungsmaßnahmen Syriens. Im Jahr 2006 hatte Zypern schon einmal einen Frachter, der ein Raketen-Radar-System aus Nordkorea an Bord hatte, an der Weiterfahrt nach Syrien gehindert.
Syrien hatte daraufhin einen regelmäßigen Fährverkehr mit dem türkischen Teil Zypern aufgenommen. Seit der Teilung der Insel im Jahr 1974 ist der nördliche Teil von türkischen Truppen besetzt. Neun Jahre später wurde dort die Türkische Republik Nordzypern ausgerufen, die allerdings bis heute nur von der Türkei anerkannt wird.
Neben der Angst, Syrien könnte diplomatische Beziehungen zu Nordzypern aufbauen, kommt vermutlich ein zweiter Punkt hinzu, der das zögerliche Verhalten Zyperns erklärt. Die Monchegorsk ist Chefsache und der Staatspräsident Zyperns ist mit Demetris Christofias ein Kommunist alter Schule, der während seiner Amtszeit enge Beziehungen zu im Westen verfemten Staaten wie Iran, Syrien, Kuba, Russland oder Venezuela aufgebaut hat. Es dauert mehrere Tage, bis es den US-Diplomaten gelingt, Zypern davon zu überzeugen, die Monchegorsk in einen zypriotischen Hafen zu bringen, wie aus den amerikanischen Geheimdepeschen hervorgeht, die von Wikileaks 2009 veröffentlicht worden sind. Am 28. Januar setzt sich der Frachter in Bewegung und erreicht im frühen Morgen des nächsten Tages den Hafen von Limassol. In einem späteren Bericht wird der US-Botschafter Frank Urbancic die zypriotische Kooperationsbereitschaft als „halb-herzig“ beschreiben. „Nur der internationale Druck des UN-Sicherheitsrats und der EU haben Zypern dazu gebracht, dass Schiff in einen Hafen zu schleppen, um die Ladung genauer zu untersuchen und eventuell zu beschlagnahmen“, heißt es darin.
Danach geht die Phase der Geheimdiplomatie erst richtig los. Laut den Depeschen versuchen zypriotische Offizielle alles, um zu verhindern, dass die Ladung auf „sicheren Grund“ gelangt, wie es weiter heißt. Zypern steckt in der Klemme. Aus Furcht vor schwerem Druck aus Iran und Syrien will der Inselstaat die Munition nicht an sich nehmen und schlägt stattdessen vor, die Ladung an die UN zu übergeben. Die USA lehnen ab. In der betreffenden Depesche heißt es nur: „Der Botschafter begrüßte die kreativen Vorschläge und versprach sie an Washington weiterzuleiten.“ Komplimente klingen auch in der Sprache der Diplomaten anders.
Zypern will die Munition nicht auf der Insel haben
Die USA schlagen vor, die Munition entweder an Großbritannien oder Frankreich zu übergeben. Das wiederum lehnt Zypern ab. Der Inselstaat ist gegen eine Lösung, bei der nicht die UN mit im Boot sitzt. Das widerstrebt hingegen den USA. Sie wollen Russland heraus halten, das bei einer UN-Lösung automatisch mitentscheiden könnte, was mit der Ladung passieren soll. Gleichzeitig übt Syrien Druck auf Zypern aus und verlangt die Herausgabe der Munition. Das Regime von Baschir Assad will keinen Verstoß gegen die UN-Sanktion 1747 erkennen, da diese nur für atomwaffenfähiges Material gelten würde. Die Diplomaten des Inselstaates hoffen währenddessen auf die Unterstützung Russlands. Doch die Russen wollen nicht. Mittlerweile liegt die Monchegorsk knapp eine Woche im Hafen von Limassol – die 2 000 Tonnen Munition immer noch an Bord. Zypern wechselt schließlich seine Meinung und schlägt als Aufnahmeland den Inselnachbarn Malta vor. Was dann passiert, ist unklar. Hierzu liegen keine Depeschen der US-Botschaft vor.
Fakt ist, dass am 13. Februar damit begonnen wird, die Monchegorsk zu entladen. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Wollte Malta die Ladung nicht? Hat Christofias die Bitte um Aufnahme der Munition zurückgezogen?
„Es wurde entschieden, dass die Schiffsladung in Zypern lagern wird. Wir haben immer gesagt, bevor wir solch eine Entscheidung treffen, müssen wir sichergehen, dass wir die Fracht auf Zypern sicher lagern können. Und nur wenn es dabei Schwierigkeiten geben sollte, werden wir mit anderen Staaten Gespräche beginnen“, zitiert die Tageszeitung Cyprus Mail Zyperns Außenminister Markos Kyprianou am 14. Februar. Die 98 Container werden auf insgesamt 15 Lastwagen verladen und anschließend mit Polizeieskorte zur nahegelegenen Militärbasis Evangelos Florakis transportiert. Dort wird die Munition deponiert, wo sie bis zu ihrer Explosion rund zwei Jahre später immer noch liegen wird.
Aus heutiger Sicht klingen die Worte des Außenministers Kyprianou, man könne die Munition sicher lagern, wie Hohn. Die Container standen ungeschützt und aufgestapelt unter freiem Himmel. Die Container erhitzten sich unter der prallen Sonne immer weiter. Als dann ein Buschfeuer in der Nähe der Basis ausbrach, war es zu spät: Die Detonation riss einen 15 Meter tiefen und 50 Meter breiten Krater in den Boden. Die Druckwelle bringt in der Umgebung Fensterscheiben zum Bersten. In der Umgebung regnet es Metallteile, Holzlatten und Eisenstangen. Auch das Elektrizitätswerk Vassiliko wird schwer beschädigt. Es muss vom Netz, der Stromverbrauch wird rationiert. Zunächst fließt drei Stunden am Tag kein Strom, später reduziert sich die Zeit auf zwei Stunden. Insgesamt 13 Menschen verlieren ihr Leben, 62 werden verletzt. Der volkswirtschaftliche Schaden wird auf mehr als eine Mrd. Euro geschätzt – angesichts eines Bruttoinlandsprodukts von 17 Mrd. Euro ein schwerer Schlag für den Inselstaat. Die Kreditwürdigkeit Zyperns liegt knapp über Ramschniveau.
Die Schätzung der versicherten Schäden schwankt zwischen 300 und 850 Mio. Euro. Zwei All-Risk-Policen decken Gebäude und Maschinen des E-Werks. Die erste Police hat eine Deckungssumme von 1,8 Mrd. Euro mit einem Selbstbehalt von 600 Mio. Euro, den der Kraftwerksbetreiber, die Electric Authority of Cyprus (EAC), laut Konstantinos Dekatris, dem Vizepräsidenten des zypriotischen Versicherungsverbandes, übernehmen muss.
Ausgestellt wurde der Versicherungsschein von der zypriotischen Gesellschaft Atlantic Insurance, die jedoch die Police zu 100 Prozent in Rückdeckung gegeben hat. Insgesamt 16 Rückversicherer sind daran beteiligt. Die Police verpflichtet die Versicherer, das E-Werk wieder in einen neuartigen Zustand herzurichten. Die zweite Police deckt laut Dekatris den neugebauten Block 5 mit einer Summe von 250 Mio. Euro. Zu den betroffenen Versicherern, die das Frontinggeschäft für beide Policen rückversichert haben, gehören unter anderem Swiss Re, Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS), Trust Re, Ace European Group und Lloyd’s Snydikate. Swiss Re hat bisher als einziger Versicherer die Höhe der Schadenbelastung genannt: 90 Mio. US-Dollar. Die übrigen Versicherer wollten oder konnten keine Zahl gegenüber Versicherungswirtschaft nennen.
Der Präsident lehnt alle Rücktrittsforderungen ab
Das Regierungskabinett tritt knapp zwei Wochen nach dem Unglück zurück. Nur Staatspräsident Christofias bleibt im Amt, obwohl die Bevölkerung vor allem ihm die Schuld an der Katastrophe gibt. Mit Polys Polyviou wird am 28. August ein unabhängiger Ermittler eingesetzt, der die Hintergründe der Katastrophe aufdecken soll. Als er seinen Untersuchungsbericht am 3. Oktober abgibt, kann sich die Bevölkerung bestätigt fühlen: Polyviou sieht Christofias, den ehemaligen Verteidigungsminister Costas Papacostas und den früheren Außenminister Kyprianou als die Hauptschuldigen an. In seinem Bericht nennt er eine Reihe von Fehlentscheidungen, die er den drei Politikern zur Last legt. Als vielleicht größten Fehler bezeichnet er die Entscheidung, die Munition in der Nähe des Elektrizitätswerks zu deponieren, und das ohne besondere Schutzmaßnahmen.
Die Container lagen fast zweieinhalb Jahre unter freiem Himmel. Und das, obwohl die drei Politiker genau wussten, was die Container enthielten. Selbst die mehrfachen Hinweise des Stützpunktkommandanten Andreas Ionnides, der bei der Explosion ums Leben kam, über die unsachgemäße Lagerung der Munition, stieß auf taube Ohren. Auch die örtliche Feuerwehr wusste nichts von dem brisanten Inhalt der Container und konnte deshalb keinen Notfallplan erstellen, sagte Polyviou vor der Presse. Erst am 6. Juli, als es schon zu kleineren Explosionen in den von der prallen Sonne aufgeheizten Behältern gab, erfuhr die Feuerwehr, was sich in den Containern befindet. Doch selbst dann habe Christofias nichts unternommen, klagte Polyviou an. Er ist überzeugt, dass zwischen dem 6. Und dem 11. Juli noch die Möglichkeit bestanden habe, die Container zu evakuieren und so die Explosion noch zu vermeiden. Doch nichts geschah. Die Katastrophe nahm ihren Lauf.
Die Rücktrittsforderungen an Präsident Christofias werden seit Vorstellung des Berichts immer lauter. Bisher hat er solch ein Ansinnen immer abgelehnt. Er sieht sich nicht in der Verantwortung – vielleicht auch aus Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen. Diese müssen nun die beiden Ex-Minister Costas Papacostas und Marcos Kyprianou fürchten. Sie wurden gemeinsam mit sechs Offizieren und Feuerwehrmännern am 24. Januar dieses Jahres wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Die betroffenen Versicherer werden versuchen, den zypriotischen Staat in Regress zu nehmen, da es offensichtliche und auch dokumentierte Versäumnisse bei der Lagerung der Munition gab, die zum Schaden am Kraftwerk geführt haben, teilt AGCS auf Anfrage der Versicherungswirtschaft mit.
Dass Geschichte sich nicht wiederholen muss, zeigt ein Vorfall Anfang Januar 2012. Da stoppte die zypriotische Marine die Chariot, ein Frachter unter der Flagge von St. Vincent und den Grenadinen, der von St. Petersburg nach Latakia in Syrien unterwegs war. An Bord: 60 Tonnen Munition für die syrische Armee. Doch statt die Ladung zu beschlagnahmen, konnte das Schiff den Hafen von Limassol nach wenigen Tagen wieder verlassen und weiter nach Syrien fahren, wo die tödliche Fracht am 14. Januar ihren Zielort erreichte – und jetzt wahrscheinlich dafür verwendet wird, aufständische Rebellen zu bekämpfen.
Erschienen in Versicherungswirtschaft 4/2012