Der Zweifel nach der Kapitulation

Drei Jahre nach „Kapitulation“ melden sich die vier Musiker von Tocotronic mit „Schall und Wahn“ zurück – ein Album, auf dem sie alte Gewissheiten über Bord geworfen haben. Zwischen leise, zweifelnde Töne mischen sich darauf auch laute und ruppige, die an die Frühzeit der Band erinnern.

Tocotronic ist der letzte „noch lebende“ Vertreter der Hamburger Schule – eine Genrebezeichnung übrigens, die den Bandmitgliedern überhaupt nicht schmeckt – sie lehnen es strikt ab, sich einer popkulturellen Strömung zuordnen zu lassen. Davon zeugt etwa ihr Song „Ich bin neu in der Hamburger Schule“ aus dem Jahr 1995: „Ich bin neu in der Hamburger Schule, Und vielleicht komm‘ ich hier nie wieder raus, Vielleicht werde ich nie meinen Abschluss machen, Denn hier gibt es ja immer Applaus.“

Nun ist ihr neues Album „Schall und Wahn“ erschienen, auf dem Tocotronic dieser Verweigerungshaltung treu geblieben ist. Dennoch gewinnt der Zuhörer den Eindruck, dass Tocotronic nach über 20-jähriger „Schulzeit“ sehr wohl seinen Abschluss gemacht hat – und zwar mit Bravour. Bis dahin war es jedoch ein langer Weg.

Nichts ist mehr gewiss

Auf „Schall und Wahn“, benannt nach William Faulkners berühmtem Roman aus dem Jahr 1929, ist nichts mehr Gewiss. Tocotronic hat alte Sicherheiten über Bord geworfen und präsentiert ein Album, das sowohl musikalisch als auch textlich im Ungefähren verharrt und die 17 Jahre alte Band in der ganzen Vielschichtigkeit zeigt. „Im Zweifel für den Zweifel, das Zaudern, den Zorn, im Zweifel fürs Zerreißen der eigenen Uniform, im Zweifel für Ziellosigkeit“ heißt es etwa in „Im Zweifel für den Zweifel“, einem ruhigen Liedermacherstück mit Streichereinsätzen im Hintergrund.

Noch ruhiger, getragener und mit noch mehr Streichereinsatz kommt „Das Blut an meinen Händen“ daher, während der schnörkellos-melancholische Indie-Popsong „Schall und Wahn“ besonders interpretierfreudigen Hörern gefallen wird. Denn nicht nur Faulkners gleichnamiges Werk, das den Niedergang einer einst bedeutenden Südstaatenfamilie in Form innerer Monologe und Rückblenden erzählt, bietet Raum zur Deutung. Auch William Shakespeare kann herangezogen werden, heißt es doch am Ende seines Dramas Macbeth: „Leben … ist nichts mehr als eine Geschichte, erzählt von einem Idiot voll mit Schall und Wahn, die nichts bedeutet.“ Und Sänger Dirk von Lowtzow singt: „Schall und Wahn, ich bin euch Untertan, (…) Schall und Wahn, ich bin in eurer Macht, ihr habt mich ausgedacht.“

Aufruf zur Antriebslosigkeit

Zwischen die zweifelnden Töne mischen sich aber auch laute und bestimmte, die an die Frühzeit der Band erinnern. Am deutlichsten im ruppigen „Stürmt das Schloss“, das rein stilistisch auch auf einem der ersten Tocotronic-Alben seinen Platz hätte finden können. Die Singleauskopplung „Macht es nicht selbst“, ein roh-stampfender Garagenrocksong, ist ein Aufruf zur Antriebslosigkeit – alle Tätigkeiten sind sinnlos, außer Selbstbefriedigung und Selbstauslöschung.

Auftakt und Abschluss des insgesamt zwölf Songs enthaltenden Albums sind die zwei epischen Lieder „Eure Liebe tötet mich“ und „Das Gift“, die beide jeweils länger als acht Minuten dauern. Sie wirken noch ausufernder, noch ausgefranster als frühere Tocotronic-Songs. So verschwimmen etwa bei „Eure Liebe tötet mich“ die Instrumente. Zu Beginn sind sie noch kristallklar zu hören, ehe sie sich zu einem einzigen, großflächigen Klangbild entwickeln, das den Hörer in einen hypnotischen Strudel zieht. Dieser wird immer eindringlicher, bis die Vielstimmigkeit des Liedes plötzlich verebbt und nur noch Gesang und Gitarre übrig lässt. Ähnlich bei „Das Gift“. Das Lied ufert irgendwann vom psychedelischen Rocksong ins Orchestrale aus und endet mit dem Höhepunkt.

Meilensteine des deutschen Indiepops

Es scheint, als wollte Tocotronic auf „Schall und Wahn“ seine eigene Geschichte Revue passieren zu lassen. Die begann 1993. Tocotronic spielten damals eine rohe Mischung aus Punk, Grunge und Liedermachertum, gepaart mit mitreißenden Melodien. In ihren Texten wetterten die Musiker einerseits gegen die deutsche Alltagskultur und zeigten andererseits eine Verletzlichkeit, die der deutschen Popmusik bis dato fremd war. Sie trafen damit sowohl den Nerv der Popintellektuellen, als auch den einer ganzen Generation junger Menschen. Diese fühlten sich von der Welt unverstanden und fanden in Tocotronic-Liedern einen Ausdruck ihrer Entfremdung.

Die ersten drei Tocotronic-Alben „Digital ist besser“, „Nach der verlorenen Zeit“ und „Wir kommen, um uns zu beschweren“, die alle 1995 und 1996 erschienen, gelten noch immer als Meilensteine des deutschen Indiepops. Da erschien es fast zwangsläufig, dass der Musiksender Viva der Band deswegen ihren Musikpreis Comet verleihen wollte. Tocotronic sollte den Preis in der Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“ erhalten, was die Band jedoch auf der Preisverleihung unter lauten Buhrufen der anwesenden Zuschauer mit den Worten „Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein“, ablehnten.

Abschied vom ungestümen Gitarrenrock

Mit ihrem vierten Album „Es ist egal, aber“, das 1997 erschien, entfernte sich Tocotronic immer mehr vom rohen Sound der Anfangsjahre und begann die Lieder feiner zu arrangieren. Auch weitere Instrumente wie Streicher und Keyboards kamen öfter zum Zug. Auf den folgenden Alben setzte Tocotronic diesen Weg konsequent fort.

Die Musik wurde überbordender und ausufernder, bis die Band musikalisch nur noch wenig mit dem ungestümen Gitarrenrock der Anfangsjahre zu tun hatte, was auf dem 2002 erschienenen Album „Tocotronic“ seinen Höhepunkt fand. Im Jahr 2004 wuchs das Trio, das bis dahin aus Dirk von Lowtzow (Gesang und Gitarre), Jan Müller (Bass) und Arne Zank (Schlagzeug) bestand, zum Quartett, als Rick McPhail zur Band stieß.

Keine Aufgabe trotz „Kapitulation!

Ein Jahr darauf erschien „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Musikalisch wieder deutlich reduzierter und mehr auf Rock getrimmt, wurde es das bis dato erfolgreichste Album der Band. Es erklomm Platz 3 der deutschen Albumcharts. Im Jahr 2007 veröffentlichen Tocotronic schließlich „Kapitulation“, ihr vielleicht ambitioniertestes Album und nicht weniger erfolgreich als der Vorgänger. Das Konzeptalbum, das die lustvolle Unterwerfung unter den eigenen Ruin forderte, begeisterte die Kritiker, die in „Kapitulation“ einen sensiblen Gegenentwurf zum Zeitgeist sahen. „Musik und Texte wie ein Wasserfall Wahrheit“ jubelte etwa eine Rezensentin des Musikmagazins Intro.

Trotz „Kappitulation“ dachte Tocotronic nicht ans Aufgeben. Im Gegenteil. Auf „Schall und Wahn“ wird das in „Die Folter endet nie“ am Deutlichsten – ein fröhliches, beschwingtes Lied, das wie kein Zweites auf dem Album den „Kampf gegen die Gegebenheiten“ besingt und eine „Lanze für den Widerstand“ bricht. Mit allen Konsequenzen, auch wenn das bedeutet, dass „wir auf der Streckbank liegen“ und die Folter nie enden wird. Im Tocotronic-Verständnis ist das jedoch kein Grund zur Klage, denn „von heute an leben wir ewig“. Diese Gewissheit macht gelassen, trotz aller Zweifel.

„Schall und Wahn“ wirkt weniger verkopft als sein Vorgänger, die Lieder klingen leichter und beschwingter. Teilweise sogar selbstironisch, wovon „Keine Meisterwerke mehr“ zeugt. Schließlich wurde Tocotronics Vorgängeralbum „Kapitulation“ offensiv als solches beworben. Trotzdem wirkt das Album, das laut Aussage der Band den Abschluss der Berlin Triologie darstellen soll – auch „Pure Vernunft darf niemals siegen“ und „Kapitulation“ wurden in Berlin aufgenommen – wie ein Abschied. Tocotronic hat einen Punkt erreicht, von dem aus es in alle Richtungen weitergehen kann. Welche das sein wird, bleibt offen.

„Schall und Wahn“ ist am 22. Januar 2010 erschienen.

Veröffentlicht am 22. Januar 2010 auf ARD.de

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