Folgenden Text habe ich im Januar 2022 für ein Fanzine geschrieben. Leider ist das Heft nie erschienen. Glaube ich zumindest, denn der Herausgeber hat sich danach nie mehr dazu geäußert. Vielleicht ist das Zine ja doch erschienen und ich weiß nur nichts darüber.
Sei’s darum. Obwohl der Text nicht mehr aktuell ist, hat meiner Meinung nach nichts an Aktualität verloren. Ich hoffe er gefällt euch trotzdem.
ENDSTATION 2022
Wir können uns glücklich schätzen, in dieser großartigen Zeit zu leben. 2022 ist das Jahr, indem die alten Lederjacken mit den nihilistischen Sprüchen auf dem Rücken aus dem Keller geholt werden können und der Soundtrack zum Untergang erklingt. 1977 wurde Punk geboren, 2022 wird sich Punk erfüllen.
Wir haben uns so lange an den 1980er-Jahren ergötzt, uns über die Frisuren, die Mode und die Musik lustig gemacht, das sie nun wieder zurück sind. Aber nicht nur die Typen, die völlig unironisch einen Tom-Selleck-Gedächtnisschnäuzer tragen, stolzieren wieder in zu kurzen Shorts die Strandpromenade entlang, auch die Kriegsminister sitzen wieder in ihren Bunkern und warten auf den großen Knall. Die Antwort auf die Frage: „Der Kalte Krieg – Comeback oder weg?“, fiel eindeutig aus. Die 1980er-Jahre machen keinen Gefangenen. Am Ende stirbt jeder für sich allein.
Schlachtfeld Europa, mit Vladi ist der Krieg so nah. „Amis go home“ erklingt es aus dem Kreml und den friedensbewegten Resten, die noch am Eingangstor der Ramstein Airbase gekettet sind, um Uncle Sam mal so richtig in die Coke light zu spucken, während auf dem Majdan mit kräftigen Donbass geschmettert wird: Ruskis verpisst euch, keiner vermisst euch! Und so rasseln die Säbel und zittern die morschen Knochen der Welt vor dem großen Krieg. Der Schrecken ist noch nicht gebrochen. Es wird für niemand ein Sieg, wenn alles in Scherben fällt.
Die Zeiten werden immer schlimmer, die Schlagzeilen werden immer dümmer. Es ziehen dunkle Tage übers Land. Deutschland ist wieder in seiner Natur und redet Fraktur. Michael und Marianne Mustermann freuen sich daran, das man endlich wieder alles sagen kann. Denn Hitler war kein Antisemit, sondern nur jemand, der sich nicht impfen lassen wollte. Und das seine Jünger heutzutage Flüchtlingsheime anzünden ist bloß ein Schrei nach Liebe. Die braune Brut marschiert gegen die da oben, gegen die anderen und singt Westernhagens „Freiheit“. Die Dummheit traut sich auf die Straßen und darf toben. Die Patridioten gehen auf die Barrikaden. Bald fliegen Steine durch die Luft, alle sind voller Hass geladen. Die Polizei knüppelt wieder, wie immer auf dem rechten Auge blind, denn wir fahren gegen Nazis.
Und Du gehst nachts durch die Straßen. Hast Angst, weißt auch warum. Braune Schatten folgen Dir. Drehst dich nicht um. Der nackte Wahn greift um sich, kalter Schweiß und Paranoia. Die Angst, die macht dich stumm. Es sind jetzt schon so viele und es werden immer mehr.
Die Kernkraftritter reiten wieder nach Tschernobyl zurück zum Atom. So ein Brennstab glüht schließlich nachhaltig einige Jahrhunderte lang. Oder wir kippen die Scheiße einfach in die See. Das bisschen Säure tut der doch nicht weh. Die Todgeweihten grüßen uns, denn wir stehen längst auf verseuchtem Boden. Auf uns fällt saurer Regen und wir scheißen drauf. Punk braucht keine Natur! Punk geht zurück zum Beton. Und je älter das Jahr wird, desto nervöser zuckt der Finger in den Kommandoständen über dem roten Knopf bis es schließlich heißt: Atomschlag auf Zone A.
Irgendwo im Nirgendwo an der Endstation werden wir dann leise summen: „Panzer, Bomben und Granaten, auf der ganzen Welt ist Krieg. … Saurer Regen, Umweltgifte, diese Welt ist völlig krank … In dem ganzen Land nur Hass …“, wenn wir auf den Atompils am Horizont blicken und denken: „Das habe ich schon einmal auf einem Plattencover von Discharge gesehen.“
Nie war Punk mehr bei sich selbst als in diesem Moment. An der Endstation 2022.