Die Bilder, Videos und Berichte aus der Ukraine sind schrecklich, das Leid der Menschen riesig und die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Blutvergießens wird immer geringer.
Es war nur eine Frage der Zeit, jetzt hat Putin Fakten geschaffen und die Ukraine überfallen. Der Schock und die Überraschung waren und sind groß im Westen. Auch bei mir. Ich frage mich trotzdem: Warum ist die Überraschung so groß? Putin hat schließlich nie ein Geheimnis um seine Pläne und Ansichten gemacht. Sei es in Aufsätzen, Reden oder schlicht Taten. Schon 1994 hätte zumindest klar sein können, dass Putin vieles ist, aber kein „lupenreiner Demokrat.“

Der Krieg gegen die Ukraine begann eigentlich schon 2014 mit der Annexion der Krim und der Unterstützung der Separatisten im Donbass. Und spätestens als ab vergangenen Herbst die Zahl der russischen Streitkräfte an der Grenze zur Ukraine massiv anwuchs, hätte uns bewusst sein müssen, dass der Überfall auf die Ukraine keine Frage des “Ob” ist, sondern des “Wann”.
Es lag alles vor uns und trotzdem wollten wir der Wahrheit nicht in die Augen schauen. Wir sind so in unserem kapitalistischen Glauben gefangen, dass der Mensch ein rational-ökonomisches Wesen ist, dessen höchstes Ansinnen es bei all seinen Taten ist, den Freihandel nicht zu gefährden, dass wir uns nicht vorstellen können, das es jemand ernst meint, wenn er Handlungen ankündigt, die den freien Warenfluss gefährden. Diese Person ist dann entweder verrückt oder ein kluger Stratege, der den verbalen Grenzübertritt nutzt, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken, aber da die Person so ein kluger Stratege ist, wird sie die Ankündigung nie in die Tat umsetzen, denn sie würde sich damit ins eigene Fleisch schneiden, wenn der Freihandel unterbrochen ist. Falsch gedacht.
Was übersehen wird: Putin spielt nach seinen eigenen Regeln. Wirtschaftliche Sanktionen haben ihn bisher nicht von seiner Linie abgebracht und sie werden ihn auch jetzt nicht davon abbringen. Er muss keine Abwahl fürchten, er braucht nur einen treu ergebenen Sicherheitsapparat. Er verfügt über einen der begehrtesten Rohstoffe überhaupt, für den wird er trotz Sanktionen Abnehmer finden. Und auch, ob der Ausschluss aus dem SWIFT-Zahlungsinformationssystem Putin zum Einlenken bringt, ist nicht ausgemacht. Russland hat nach der Krim-Annexion ein eigenes Zahlungsinformationssytem entwickelt, das grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr zwischen Banken ermöglicht. China hat zudem sein eigenes System, auf das Russland Stand jetzt wird zurückgreifen können. Handel und Finanztransaktionen werden für eine gewisse Zeit zwar etwas komplizierter, aber nach einer gewissen Zeit wird es sich einpendeln. Der Handel mit Europa wird aufgrund der Sanktionen ohnehin geringer werden. Solange China Putin nicht den Rücken kehrt, wird er die wirtschaftlichen Sanktionen aussitzen. Putin weiß, das man im Krieg Verzicht üben und Opfer bringen muss. Die Frage ist ohnehin: Wie wird es weitergehen? Wie viel Leid müssen die Menschen in der Ukraine noch erleiden? Und wie wird es enden?
Je länger die Ukraine die militärische Niederlage hinauszögern kann, desto schwieriger wird es für den Westen, die angekündigte Solidarität auf Sanktionen und Waffenlieferungen zu beschränken. Doch was dann? Wird Putin wirklich bis zum Äußersten gehen? Und geht die NATO dann mit?
1989 fiel die Mauer und die Gefahr eines Weltkriegs schien gebannt. 2022 ist das Jahr, in dem neue Mauern errichtet werden – wenn wir Glück haben. Wenn wir Pech haben, wird niemand mehr am Leben sein, der die Trümmer übereinander schichten kann.